Hofheim am Taunus, 10. Juli 2020 – In der andauernden Corona-Episode sind viele Menschen mit verstärkten Ängsten konfrontiert. Allerlei Befürchtungen um die Gesundheit, die berufliche Situation und um die aufgebauten Ersparnisse werden aktuell im Zwischenhirn erzeugt und setzen viele enorm unter Stress. Die Amygdala des limbischen Systems ist dieser Tage besonders sensibilisiert für Signale, die Impulse zur Vorsicht bzw. Flucht geben. Prognostiker für den großen Crash oder die Hyperinflation bekommen daher gerade jetzt Gehör geschenkt. In meinem letzten Kommentar hatte ich mich eingehend mit den Crash-Prognostikern beschäftigt. Diesmal möchte ich die Furcht vor der großen Inflation, mit nachhaltigen Inflationsraten jenseits der 4 Prozent, zum Thema machen und Pros und Contras dieses Szenarios beleuchten.

Preise kann man nicht ausweiten!
Die Herkunft des Begriffs „Inflation“ liegt im Lateinischen inflare und bedeutet „aufblasen“ oder „ausweiten“. Diese Begriffsherkunft lässt gleich vermuten, dass sich dieses Phänomen nicht auf den Preis beziehen kann. Trotzdem sind wir es gewohnt, Inflation mit Teuerung gleichzusetzen. Korrekterweise muss sich der Begriff „Inflation“, also der „Ausweitung“, auf die Geldmenge beziehen. Inflation ist also die Ausweitung der Geldmenge, Teuerung eine potentielle Folge daraus. Soviel Klarheit muss sein, um im Folgenden Ursache und Wirkung eindeutig trennen zu können.

Das sicherste an der Prognose ist ihr Fehler!
Prognosen hören sich zuallermeist plausibel an, denn sie sind regelmäßig fundiert begründet. Doch ihr großer Makel ist, dass sie immer empirisch aus Erfahrungen der Vergangenheit entstanden sind. Unsere Welt ist aber ein komplexes Gebilde von Wirkungen und Wechselwirkungen, die sich noch dazu sehr dynamisch verändern. Situationen in der (Wirtschafts-)Geschichte sind somit immer einzigartig. Schlussfolgerungen aus einer einzigartigen Situation auf eine andere einzigartige Situation sind demzufolge zwangsläufig immer fehleranfällig – und Prognosen deshalb auch meistens falsch! Von Prognosen zum wirtschaftlichen Geschehen sollte man sich also in der Konsequenz nicht zu sehr lenken lassen.

Die Weltwirtschaft als Badewanne
Stellen wir uns die Menge Geld einmal als Wassermasse vor. Nicht zuletzt bezeichnet man Geld ja auch mit „Liquidität“. Damit aber noch nicht genug. Unser Weltwirtschaftssystem soll jetzt gedanklich von einer Badewanne ersetzt werden. Je mehr Wasser (Liquidität) nun in die Wanne inflationiert wird, desto höher der Wasserstand – vorausgesetzt die Wanne hat kein Leck und sie läuft nicht über. Alle Entchen und sonstigen schwimmenden Gegenstände befinden sich mit ansteigendem Wasserstand auf einem höheren Niveau.

So verhält es sich grundsätzlich auch mit dem allgemeinen Preisniveau der Anlage- und Konsumgüter bei steigender Geldmenge. Frische Liquidität hebt tendenziell die Preise, ablaufende Liquidität senkt sie in der Breite ab. Dazu muss sie aber tatsächlich auch in die „Wanne“ Wirtschaftssystem einfließen und nicht irgendwo auf Konten ohne Verwendung „zwischengestaut“ werden. Ein wichtiger Faktor findet in unserem vereinfachenden Badewannenbeispiel also keine Berücksichtigung: die sogenannte Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in einer Periode.

Die Realität lautet – Stand jetzt – Deflation!
Steigen wir aus der Badewanne wieder aus, trocknen uns erst einmal ab und werfen dann einen Blick auf die wirtschaftliche Realität. Die ist aktuell stark durch Corona geprägt und war bis hierher alles andere als inflationär! Genau das Gegenteil war der Fall: Deflation lautet die Diagnose. Liquidität ist aus dem globalen Wirtschaftssystem abgeflossen bzw. wurde zurückgestaut. Umsätze waren zuhauf vernichtet. Die Deutsche Lufthansa etwa verlor eine Million Euro pro Stunde. Sehr viel Geld war plötzlich nicht mehr da bzw. ist nicht mehr zirkuliert. Die Werte der Anlagegüter fielen, überall dort wo eine tägliche Preisbildung bzw. Liquidierbarkeit gegeben war, so schnell wie nie zuvor.

Das Schicksal der Deflation trifft im Übrigen auch alle Anlagegüter, die keine tägliche, sondern eine viel trägere Preisfindung haben. Weder ein außerbörsliches Unternehmen, noch eine Immobilie bieten Schutz vor tiefgreifender Deflation. Sämtliche Vermögenswerte waren von dieser Entwicklung temporär betroffen, auch das Gold. Das Gegensteuern der politisch Handelnden ließ zunächst auf sich warten. Dann aber setzte es seitens von Regierungen mit schuldenfinanzierten Stützungsmaßnahmen und auf Ebene der Zentralbanken mit Ausgabe frischer Liquidität, in bislang nicht gekanntem Ausmaß, ein. Diese Maßnahmen schwächten den starken Deflationsdruck noch im März erheblich ab und stabilisierten Wirtschaft und Kapitalmärkte. Und schließlich bilden diese Maßnahmen die Grundlage für eben jene Inflationsprognostiker.

Doch zum aktuellen Zeitpunkt kann, trotz dieser umfangreichen Inflation frischen Geldes, von Teuerung keine Rede sein! Denn es ist auf der anderen Seite eben viel Geld in recht kurzer Zeit aus dem Wirtschaftssystem entwichen. Diesen entscheidenden Umstand ignorieren die Inflationsprognostiker zum Teil hartnäckig. Ihre gewagten Prognosen waren bereits im März und April zu vernehmen, als die Welt noch stark deflationär war. Weder zu diesen, noch zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich Inflation, also nach unserer Definition „Teuerung“, ansatzweise verlässlich vorhersagen. Zu stark war der deflationäre Effekt aus der Pandemie. Und dieser Effekt wirkt weiterhin, denn zahlreiche Geschäftsmodelle sind weltweit fortwährend von den Corona-Beschränkungen betroffen und viele Menschen erhöhen derzeit ihre Sparquote und üben Zurückhaltung in ihrem Konsum, ob der vakanten Jobperspektive.

Bedienen wir uns zur Beweisführung der konkreten Situation in den USA. Hier regnet es seit März sozusagen Billionen neuer US-Dollar vom Himmel. Der sprunghafte Anstieg der US-Zentralbankbilanz in Abbildung 1 zeigt uns auf beeindruckende Weise die Quelle der Entstehung. Der Begriff des sogenannten „Helikoptergeldes“ ist längst zur Realität geworden. Viele Menschen ohne Job etwa, die zuvor ein Jahreseinkommen von unter 150.000 USD erzielten, erhalten zurzeit vielfach ein Arbeitslosengeld, das höher ist als ihr letztes Erwerbseinkommen. Doch messen wir Teuerung am öffentlichen Maßstab des Verbraucherpreisindex, so zeigt dieser aktuell in der US-Volkswirtschaft leichte Preisdeflation an. Gleiches gilt derzeit für 12 von den 19 Eurostaaten.

Inflations-Ausblick
Als Kritiker einer zu eifrigen Prognosetätigkeit werde ich Ihnen jetzt keinen Inflations-Ausblick mitgeben. Vielmehr möchte ich die Position der Inflationsapostel greifbarer machen. Fest steht, dass die politischen Maßnahmen eine immense Geldschöpfung bedeuten. Diese Beträge lassen sich in der Tat „greifen“, so wie in Abbildung 1 für zwei der schwergewichtigen Zentralbanken dargestellt. Inflation im ureigenen Sinne von Geldmengenausweitung ist auf diese Weise messbar. Doch schon die Messung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, die wichtigen Einfluss auf die Teuerung besitzt, ist äußerst schwierig. Und ebenso wenig greifbar sind zudem derzeit die vielfältigen deflationären Folgewirkungen der Corona-Lockdowns und ihre Spätfolgen, die auf Liquidität und Vermögenswerte von Unternehmen und Privathaushalten weiterhin wirken.

Es wird jedoch auch gewisse preiserhöhende Effekte aus der Corona-Pandemie geben. Globale Lieferketten, die aus Kostengründen konsequent die Vorteile globaler Arbeitsteilung nutzten, werden zukünftig zahlreich, aus Gründen der Versorgungssicherheit, stärker in lokal ausgerichtete Prozesse umgewandelt werden.

Es ist durchaus vorstellbar, dass wir mittelfristig mit höheren Inflationsraten konfrontiert sein könnten. Doch das ist keineswegs vorherzusagen. Es gibt einfach zu viel deflationäres Potential, das gegen solche Preissteigerungen wirken kann. Um nur zwei gewichtige Argumente anzuführen, möchte ich das Risiko einer merklichen Zunahme der Firmeninsolvenzen und die andauernde Erhöhung der Sparquote bei fehlenden Zinsen und steigenden Zukunftsängsten nennen.

Fazit
Den Crash-Prognostikern hatte ich zuletzt energisch widersprochen. In Sachen Inflation würde ich das nicht tun. Allerdings reichen die derzeitigen Anzeichen längst nicht aus, um eine erhöhte Inflation einigermaßen sicher vorhersagen zu können.
Sollte es jedoch dazu kommen, werden die Zentralbanken wohl weniger intensiv als in früheren Zeiten um ihre Eindämmung bemüht sein. Schon vor Corona haben die Zentralbanken ihre Inflationsziele als sogenannte symmetrische Inflationsziele neu definiert. Dahinter steckt die Toleranz, dass man über 2,0 Prozent hinausschießende Inflationsraten eine Weile akzeptieren würde, sofern die Inflationsrate in den Jahren zuvor deutlich hinter dieser Zielmarke zurückgeblieben ist – was der Fall war. In dieser höheren Inflationstoleranz steckt das eigentliche neue Inflationsrisiko.

Ihre Vermögensdispositionen sollten Sie letztlich nicht zu stark an einer potentiellen Inflation ausrichten. Der entscheidende Maßstab sollte stattdessen darin liegen, Geldanlagen einzugehen, die auch post Corona mit nachhaltiger menschlicher Nachfrage verbunden sind. Bei Inflation werden sie überdurchschnittlich stark steigen und bei Deflation weniger stark sinken. Und gegenüber dem Euro-Konto werden sie zumindest auf mittlere Sicht ganz erheblich gewinnen.

Ihr Jörg Haldorn, CFP, EFA
Hofheim am Taunus, 10. Juli 2020