Hofheim am Taunus, 16. Januar 2020 – In den zurückliegenden Wochen waren die Medien wieder prall gefüllt mit allerlei Vorhersagen für das vor uns liegende Jahr. Eine beliebte Spielwiese der Prognostiker waren dabei natürlich auch wieder die Kapitalmärkte. Und auch dieses Mal war jedes Szenario dabei, vom Crash bis zu präzise bezifferten Allzeithochs. Wenn Sie eine Bündelung gewisser Prognosen in eine konkrete Richtung herausgelesen haben, dann sollten Sie erfahrungsgemäß genau das Gegenteil dessen tun!

Mit diesem Kommentar werde ich die engen Grenzen solcher Vorhersagen logisch aufzeigen. Und ich werde begründen, warum unser Verstand der bessere Investmentkompass ist, als Prognosen, die aus Erfahrungen der Vergangenheit resultieren. 

Das Vorhersagedilemma menschlichen Handelns

Die hungrige Suche nach Erkenntnis und der Wunsch nach Kontrolle der ständigen Veränderung treibt den Menschen an. In den Wissenschaften ist dieser Trieb besonders stark ausgeprägt. An der Werkbank der Empirie tüfteln Natur- und Gesellschaftswissenschaftler mit großem Ehrgeiz und gleicher Methodik. Sie experimentieren vor sich hin, machen A und B und erwarten C. Oder sie probieren G, H, I und J und es werde K.

In den Naturwissenschaften lassen sich so durch Beobachtung bzw. Erfahrung an der Materie Gesetzmäßigkeiten aufspüren, wie Newtons Gesetze in der Physik. Sie gelten auf diesem Planeten überall und immer. Egal wo Sie einen Medizinball aus den Händen gleiten lassen, er fällt zu Boden. Doch bereits in den Naturwissenschaften erfährt die Wahrheitsfindung der Empirie ihre Grenzen, wie uns die Quantenphysik lehrt. So verhalten sich Elektronen mit identischer Impulsgebung unter Beobachtung heterogen, in dem sie zu unterschiedlichen Positionen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit fliegen. Besteht hier bereits ein Zusammenspiel zwischen Geist und Materie?

In den Gesellschaftswissenschaften, wie etwa der Soziologie, wird die Wahrheit ebenfalls mit empiristischer Methode gejagt. Aus in sich einzigartigen geschichtlichen Ereignissen und deren Vergleichen miteinander werden Regeln extrahiert. Doch das große Problem der Regelfindung sind hier die Einflussfaktoren, die sich aus dem menschlichen Handeln ergeben. Sie lassen sich nicht wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment isolieren. Noch dazu sind sie sehr zahlreich, ihr Zusammenspiel regelmäßig sehr komplex. Und wie soll man die einzelnen Faktoren in ihrer jeweiligen Einflusskraft bewerten? Schon an dieser Stelle muss die empirische Analyse zwingend willkürlich und unpräzise ausfallen.

Darüber hinaus ändert sich das menschliche Handeln im Zeitablauf fortwährend. Gründe dafür sind die menschliche Fähigkeit zu lernen und sich stets wandelnde menschliche Absichten und Bedürfnisse. Versuche, das menschliche Verhalten eines Einzelnen, ganzer Kollektive oder Märkte aus Erfahrungen und Beobachtungen heraus vorherzusagen bzw. Gesetzmäßigkeiten zu definieren, sind zum Scheitern verurteilt! Über den Status unsicherer Prognosen kommen sie nicht hinaus. Allenfalls kann man mit dem Behelf der Statistik Wahrscheinlichkeiten bestimmen. Die Statistik ist gewissermaßen der Krückstock der Empirie. Diesen Krückstock wird die Empirie der Gesellschaftswissenschaften immer benötigen – andernfalls müsste sie den Geist entkodifizieren. Der Mensch wäre dann gottgleich.

Die Erkenntnis aus der Logik ist stabiler als aus der Erfahrung!

Die Erkenntnis aus der Erfahrung und der Versuch der daraus abgeleiteten Vorhersagung sind also sehr fehleranfällig. Die Statistik misst ihre Fehlerhaftigkeit. In einer globalisierten, stark vernetzten Welt, mit einer hohen Anzahl an Interdependenzen, gilt das nicht zuletzt und gerade auch für die Prognosen über die Kapitalmärkte. Unter den Prognostikern gibt es zahlreiche intellektuell sehr anspruchsvolle Denker. Doch ihr Aposteriorismus (die Lehre von der Erfahrung abhängiger Erkenntnis) ist schlicht ein untaugliches Werkzeug, um Zukünftiges vorherzusehen. Es ist menschlich nachvollziehbar, das können zu wollen, doch es ist gleichsam riskant auf diesem Fundament des Glaubens Investmententscheidungen zu treffen.

Darüber hinaus schicken sich diese empiristischen Prognostiker an, mehr wissen zu wollen als der Markt. Gerade in den hochentwickelten globalen Kapitalmärkten werden Informationen bzw. das Wissen in kürzester Zeit zu Preisen. So sind Börsenkurse globaler Wissensextrakt. Wer sie als unangemessen, zu niedrig oder zu hoch einstuft, muss demzufolge stets mehr wissen als alle anderen. Ein gewagter Ansatz!

Ein wenig Demut ist dagegen ein guter Investment-Ratgeber. Demut bedeutet in diesem Zusammenhang, sich auf das Wissen zu konzentrieren, das nicht falsifizierbar ist. Solches Wissen ist, wie oben ausgeführt, unabhängig von der Erfahrung und leitet sich aus unumstößlicher Logik ab. In der Erkenntnistheorie werden diese erfahrungsfreien Urteile mit dem Ausdruck „apriori“ bezeichnet. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das ökonomische Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Demnach ist die erste Einheit eines Gutes mit dem größten Nutzen verbunden. Jedes weitere Gut ist für den Besitzer weniger von Wert. Sie können diese Aussage mit jedem x-beliebigem Beispiel durchdenken. Diese Apriori-Aussage bzw. dieser Vernunftsatz ist immer wahr. Welche Aussagen dieser prognostischen Qualität können wir nun für eine Kapitalmarkt-Vorhersage nutzen?

Apriori-Sätze für 2020

Um gleich auf die Erwartungsbremse zu treten: es stehen uns zwar einige Aussagen dieser Güte zur Verfügung, doch auch sie werden uns die Zukunft nicht vorhersagen können. Die Zukunft ist und bleibt eben ungewiss!

Kommen wir nun zu diesen Apriori-Sätzen. Ich werde sie, zugunsten der Kürze dieses Kommentars, zunächst lediglich aneinanderreihen, um sie anschließend, wie die Teile eines Puzzles, zusammenzusetzen. Los geht’s: Je niedriger der Zins, desto mehr (systemrelevante) Schuldner werden sich ihre Schulden bei schwächlicher Wirtschaftsentwicklung weiterhin leisten können, ohne dabei zahlungsunfähig zu werden. Das Vertrauen in das Geld ist umso größer, je stabiler der Geldwert ist und desto geringer die Rückzahlungsausfälle auf Geldguthaben sind. Ohne Vertrauen in das Geld, keine freiwillige Haltung des Geldes. Ohne erforderliche Deckung oder bindende rechtliche Einschränkungen haben die Zentralbanken de facto unbeschränkt die Möglichkeit, neues Geld per Kredit zu schöpfen. Steht den Akteuren an den globalen Kapitalmärkten in einer Periode mehr frisches Geld zur Verfügung, als neue Anlagemöglichkeiten entstehen und bestehende Geldguthaben ausfallen, steigen die Preise bestehender Kapitalanlagen in dieser Periode tendenziell in Summe an.

Bitte überprüfen Sie diese Aussagen auf ihre Widerlegbarkeit und teilen Sie mir mit, wenn Sie eine tatsächlich falsifiziert haben. Sollten Sie diese Aussagen allesamt als logisch unumstößlich bewerten, nutzen wir sie sogleich für eine Ableitung auf die zukünftige Entwicklung.

Apriori-Ableitung für 2020

Ich hätte einige mehr dieser logischen Leitsätze, die meine Arbeit wesentlich beeinflussen, anführen können. Doch mit dieser Auswahl fokussiere ich mich bewusst auf die wichtigsten Parameter der Kapitalmärkte. Diese Parameter, die den statistisch stärksten Einfluss auf die Kapitalmärkte haben, sind Inflation und Zins- bzw. Geldmengenentwicklung. Sie stehen in engem Zusammenhang mit der konjunkturellen Entwicklung und den Gewinnen der Unternehmen.

Setzen wir nun das Apriori-Satz-Puzzle zusammen: Wir befinden uns in einer Zeit historisch nie dagewesener Schuldenstände. Bedeutende Schuldner/ Staaten wären bei freien Marktzinsen längst pleite. In der Folge wären Schuldscheine und (Kredit-)Geldeinheiten auf Konten im größeren Ausmaß gelöscht worden. Das Vertrauen in dieses (Kredit-)Geld wäre zerstört. Die monopolitischen Geldproduzenten in den Zentralbanken wissen, dass das Überleben der systemrelevanten Schuldner oder alternativ deren Verstaatlichung für den Erhalt dieses Geldsystems und somit für ihren Joberhalt unumgänglich sind. Voraussetzung dafür ist unter anderem die Vermeidung einer tieferen Rezession. Dieses Ziel wiederum verlangt derzeit nach einem starken geldpolitischen Stimulus. So sind die US-Leitzinsen in 2019 um -0,75 Prozentpunkte merklich gesenkt worden und die bereitgestellten Geldmengen der großen Zentralbanken steigen wieder signifikant an – spätestens seit der zweiten Jahreshälfte 2019. Glücklicherweise zeigen die Inflationsdaten weiteren Spielraum für eine derart expansive Geldpolitik an.

Die Phase der vorsichtigen, schrittweisen monetären Deflation seit 2015 wurde im letzten Jahr seitens der Zentralbanken auf beiden Seiten des Atlantiks also wieder beendet, bevor die globale Wirtschaft zu stark darunter leiden würde. Wir wissen also, dass wir seit einigen Monaten wieder den wichtigsten Faktor für steigende Wertpapiernotierungen im Rücken haben: die Versorgung mit neuer monetärer Liquidität. Der Effekt ist analog eines steigenden Wasserstands in einer Regentonne während eines Regengusses. Wir wissen jedoch nicht, ob die Tonne des Kapitalmarkts frei von deflationären Löchern sein wird und diese positiven Kurseffekte schmälern wird.

Solche Löcher ergaben sich seit September 2019 am US-amerikanischen Interbankenmarkt. Dem kurzfristigen Geldbedarf stand auf dem Geldmarkt ein zu geringes Geldangebot gegenüber. Die US-amerikanische Zentralbank Fed reagierte jedoch zuverlässig und gab sehr rasch zusätzliche Liquidität in Form von Milliarden US-Dollar hinzu. Ähnliche deflationäre Entwicklungen sind auch im Euroraum denkbar. Diese Annahme stellt die Grundlage für einzelne Crash-Prognostiker dar. Doch Notenbanker sind innerhalb ihrer Denkwelt nachweislich ganz erheblich lernfähiger als Politiker, ihre Sinne sollten spätestens durch die Vorkommnisse am US-Interbankenmarkt geschärft und ihre Fähigkeiten der Geldschöpfung am Ende sowieso schier grenzenlos sein.

An dieser Stelle endet die Urteilskraft logischer Herleitung. Eine genauere Prognose würde auf vorhandene Erfahrungswerte zurückgreifen müssen. Doch diese sind für die Zukunft nur mit Eintrittswahrscheinlichkeiten verbunden und somit unsicher.

Wenn Sie mich zwingen würden

Sollten Sie mir, etwa aus großer Neugierde oder aus unbändigem Streben nach Kontrolle heraus, so eine konkrete Prognose abverlangen, würde ich auf den starken Wirkmechanismus zwischen den Entwicklungen der Geldmenge M1 und des Bruttoinlandsprodukts verweisen. Ich hatte dazu in meinem Oktober-Kommentar geschrieben (siehe https://www.zaldor.de/blog/archiv/geh-n-sie-vor-der-konjunktur/). Demnach müsste die Konjunktur mit einer Zeitverzögerung von etwa einem Jahr Mitte 2020 wieder anziehen und so auch den zärter besaiteten Anlegern Mut verleihen, in die Aktienmärkte zu investieren. Insgesamt würden wir damit dieses Jahr eine robuste Fortsetzung steigender Aktienmärkte erleben.

Damit möchte ich es in Sachen Prognose auch schon wieder bewenden lassen. Wie sich die Devisen-, Anleihe- oder Rohstoffmärkte letztlich entwickeln werden bzw. welche menschlichen Investmentprioritäten sich genau herausbilden, hängt von einer Vielzahl sich gegenseitig bedingender globaler Einflussfaktoren ab. Ein gut strukturiertes Portfolio ist daher erste Anlegerpflicht.

Doch zum Abschluss möchte ich Ihnen, viel lieber als unsichere Prognosen, noch eine Portion verlässliche Logik mit auf den Weg geben. Dazu forme ich Ihnen die folgenden Apriori-Sätze: Mit abnehmendem Investment-Risiko steigt im Zeitverlauf die Anzahl jener, die bereit sind, das Risiko zu tragen um zu investieren. Je mehr Anleger zu einem Investment-Zeitpunkt bereits investiert sind, desto geringer die offene Investmentnachfrage und das Potential für weitere Kurssteigerungen. Deshalb gilt: Wer in diesen Zeiten ohne Zinsen mit seinem Geld noch Geld verdienen will, muss investiert sein – unbedingt auch in Aktien aber bitte stets gemäß seinem persönlichen Risikoprofil!

Nutzen Sie Ihr Kapital für eine erfüllte Lebenszeit!

Ihr Jörg Haldorn, CFP, EFA