Hofheim am Taunus, den 15.06.2022 – Wir befinden uns inmitten eines bislang eher schattigen Jahres auf den Kapitalmärkten. Zwischen Kapitalmärkte und Sonne, die für weitere Kurssteigerungen scheinen müsste, hat sich ein Tief namens „Teuerung“ geschoben. In meinem letzten Kommentar hatte ich die Ursachen dieser wolkenreichen Erscheinung eingehend behandelt. Entgegen mancher Darstellungen, ist der Hauptgrund für die Teuerung gewiss nicht der, die Schlagzeilen dominierende, Krieg in der Ukraine – obgleich auch dieses geopolitische Kapitel seinen unrühmlichen Beitrag zusätzlich dazu beisteuert. Eine plausible, sachlogische Erklärung für die gegenwärtige Phase ist damit hergeleitet. Doch möchte ich diesmal mit Ihnen eine, wie ich finde, spannende Perspektive zur weitergehenden Situationsanalyse teilen.

Um ein tieferes Verständnis für die Situationen an den Kapitalmärkten zu erlangen, ist es stets analytisch von Wert, aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Geschehen zu schauen. Nicht selten ergeben sich dabei aus ungewöhnlichen Perspektiven heraus überaus nützliche Erkenntnisse für das eigene Handeln. Ungewöhnlich deshalb, weil das vorliegende Erklärungsmuster so gar nicht zu dem passen will, was man bislang an denkbaren Optionen abgespeichert hat oder es wenig rational erscheinen mag. Lange Vorrede, verborgener Sinn: es ist die Perspektive eines Zyklus.

Das Mysterium der Zyklen

Die Beschäftigung mit den Kapitalmärkten verlangt zunächst einmal ein hohes Maß an Rationalität. Wer sich aber einzig und allein darauf verlässt, lässt wichtige Aspekte des komplexen Systems Kapitalmarkt außen vor, wie das Sentiment der Anleger oder den Einfluss gewisser Zyklen.

Einen Zyklus als Erklärung für die Kursentwicklung heranzuziehen, erscheint manchen irgendwie unheimlich oder wenig plausibel, weil nicht menschgemacht, somit nicht erklärbar, somit gar unwissenschaftlich oder Phantasterei. Doch vielleicht fehlen uns schlicht die Möglichkeiten, gewisse Wirkzusammenhänge bis an die Quelle erklären zu können.

Mit Zyklen sind wir grundsätzlich vertraut, wie mit dem Wechsel von Tag und Nacht oder den Jahreszeiten. Sie nehmen wir als gegeben hin. Doch es gibt viel mehr solcher stabilen zeitlichen Verhältnismäßigkeiten. So existieren auf verschiedenen Zeitebenen auffällige Zyklen, die, empirisch belegbar, mit signifikanten Aufs und Abs an den Kapitalmärkten oder im Wirtschaftsleben korrelieren. Der Kondratieff-, Juglar oder Kitchen-Zyklus sind prominente Beispiele hierfür.

Wer sich einmal mit Fraktalen beschäftigt hat, der kennt zudem die beeindruckend stabilen Verhältnismäßigkeiten in Geometrie (natürliche Formen) und Zeitabläufen (natürliche Zyklen), die sich über die so genannten „Fibonacci-Zahlen“ enkodieren lassen. In der zeitlichen (zyklischen) Dimension münden sie in die faszinierende Elliott-Wellentheorie.

Solche Analysen auf Basis von Zyklen liefern, gerade in Entscheidungssituationen, in denen die richtige Richtung nahezu ungewiss erscheint, nützliche Orientierung. Doch ich möchte hier und jetzt und aus gegebenem Anlass auf ein anderes Zeitphänomen zu schreiben kommen: den so genannten „Sabbatzyklus“ oder „Schabbatzyklus“.

Der „Schabbatzyklus“

„Sechs Jahre sollst du dein Land besäen und seine Früchte einsammeln. Im siebten Jahr sollst du es ruhen und liegen lassen, dass die Armen unter deinem Volk davon essen; und was über bleibet, lass das Wild auf dem Felde essen. Also sollst du auch tun mit deinem Weinberge und Ölberge.“ In Zeiten, in denen man dazu gedrängt wird, seinen Glauben zunehmend manch zugleich irdischem wie fiktionalem Gedankenmodell anzuhängen, wirkt ein Verweis auf das Alte Testament (2. Mose 23:10-11) für den einen oder anderen möglicherweise ein wenig befremdlich. Die Propheten Jeremia und Mose geben einige mehr dieser Denkanstöße zu einem Erlassjahr, wie diesem: „Am Ende von sieben Jahren halte Erlass…Jeder Gläubige erlasse, was er seinem Nächsten geliehen hat, er dränge nicht seinen Nächsten und seinen Bruder, denn ein Erlass Gottes ist verkündet“ (5. Mose 15:1-2).

Zahlreiche weitere bedeutende Hinweise zu einem Sabbat finden sich in den Schriften der Bibel (siehe: https://www.bibleinfo.com/de/topics/sabbat). Einer definiert bis heute unseren freien Sonntag: „So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte; und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.“ (1. Mose 2, 1-2).

Sollten Sie stramme(r) Atheist(in) sein, möchte ich mit diesen Zeilen aus Ihnen keinen Gottesgläubigen machen. Vielmehr möchte ich Sie auf eine, wie auch immer zu erklärende, jahrtausendealte Bedeutung der Zahl 7 im zeitlichen Kontext aufmerksam machen. Die siebte Zeiteinheit steht dabei für einen bewussten Verzicht, ein reinigendes und zugleich kräftesammelndes Ruhen.

Richtig interessant wird das für Sie gegebenenfalls aber erst unter Hinzunahme der Empirie, sprich einem gegenwärtigen Praxischeck. Gehen wir dabei zurück auf die Jahresebene. Das erste Sabbatjahr markierte nach dem jüdischen Kalender das Jahr nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer. Es ist der Ursprung eines siebenjährigen „Schabbatzyklus“, der für orthodoxe Juden bis heute wichtige Orientierung liefert und immer von einem bis zum nächsten September jährt. Kann dieser Zyklus auch für uns Orientierung für das weitere Kapitalmarktgeschehen geben? 

Zur Beurteilung der Relevanz blicken wir nun also zurück und fassen zusammen. Für alle kapitalmarktaffinen Leser unten Ihnen zuvor aber noch einige Jahreszahlen zum freien Erinnern: 2015, 2008, 2001, 1994, 1987, 1930.

Seit dem Jahr 1900 hatten wir siebzehn Sabbatjahre. Zwölf davon zeigten stärkere Korrekturen oder Crashes am globalen Aktienmarkt mit Abwärtsbewegungen in der Spitze von über -20 Prozent und teilweise deutlich mehr. Drei Sabbatjahre verliefen unauffällig mit nur leichten Kursverlusten und lediglich zwei Jahre verliefen positiv, das letzte davon 1958.

Eine hundertprozentig stabile zyklische Abfolge, wie etwa in unserem Jahreszeitenkalender, zeigt die Börse in Sabbatjahren also nicht. Doch die Tatsache, dass in 70 Prozent der Fälle ein Bärenmarkt auftrat, ist schon sehr auffällig. Derartige Bärenmärkte haben, gemessen am US-Aktienmarkt seit 1900, in der Gesamtbetrachtung sonst nur eine Eintrittswahrscheinlichkeit von etwa 10 bis 15 Prozent pro Jahr.

Noch dazu sind im zeitlichen Kontext zu Sabbatjahren häufig starke Zinsanstiege und signifikant steigende Ölpreise festzustellen.

Die ausgeprägten Merkmale einer „Zeit des Verzichts“ oder eines „reinigenden Gewitters“ lassen sich also als Fakt festhalten. Ist das nun das Ergebnis selbstbestimmten menschlichen Handelns oder stellen derartige Zyklen hingegen den freien Willen in Abrede? Eine wunderbare Fragestellung über die Sie bei Interesse und einer guter Flasche Wein an einem geselligen Abend und unter Abwägung der Argumente Hobbes, Schoppenhauers oder Kants philosophieren könnten. Wir versuchen das jetzt aber erst einmal ganz nüchtern für den Zeitraum 7. September 2021 bis 25. September 2022 einzuordnen.

Wie viel Sabbat steckt schon im laufenden Kapitalmarktjahr?

Die Entwicklungen des Ölpreises und der Kapitalmarktzinsen sind typisch für ein Sabbatjahr. Im Vergleich zum Juni des Vorjahres ist Öl um stattliche 70 Prozent teurer geworden. Die Rendite einer 10jährigen US-Staatsanleihe, stellvertretend für die Kapitalmarktzinsen, notiert inzwischen bei über +3 Prozent und ist im selben Zeitraum sogar um über 100 Prozent angestiegen. Beide Faktoren wirken bremsend auf die Wirtschaftsaktivität und deuten eine „Beruhigung“ an.

Zwischen Mitte November und Anfang Januar erlangten die Aktienmärkte ihr Hoch. Seitdem führen Widerstände in der Tendenz zu sinkenden Kursen. Der Index S&P 500, als repräsentatives Aushängeschild der US-Wirtschaft, korrigierte in der Spitze bis zum 13. Juni um -22 Prozent. Technologieaktien der NASDAQ100 rutschten um -33 Prozent ab und der Russel 2000, der auch zahlreiche kleinere Unternehmen umfasst, stand um -30 Prozent tiefer im Vergleich zu seinem November-Hoch. Einen konsistenten Vergleich zu den obigen Daten liefert der S&P 500 mit -22 Prozent Korrektur. Das Merkmal eines Bärenmarktes mit einer 20-Prozent-Korrektur ist demnach bereits erfüllt. Wenn wir die Fügung dieses Sabbatjahres annehmen, dann sollten wir zumindest bis Ende September keine allzu üppigen Kurszuwächse an den Kapitalmärkten erwarten.

Die Korrekturen an den Kapitalmärkten reduzieren unweigerlich unsere private Vermögensbilanz. Dieser „monetäre Vorratsspeicher“ hat an Volumen verloren. Und bedingt durch die aktuell hohe Teuerung und dem damit einhergehenden realen Wohlstandsverlust leisten wir inzwischen alle, doch aber eher unfreiwillig, unseren Erlass wie lange nicht mehr. Nutznießer bzw. realer Erlassempfänger hoher Teuerung sind in der Regel primär die staatlichen Großschuldner. Die Finanzierbarkeit ihrer turmhohen nominalen Verbindlichkeiten wird erheblich erleichtert.

Unmittelbar am stärksten betroffen von dieser Teuerung sind die unteren Einkommensklassen. Die gestiegenen Kosten des täglichen Bedarfs stellen die ohnehin engen Budgets vor eine außergewöhnliche Belastungsprobe. Göttliche Fügung oder irdisches Versagen? Ich enthalte mich an dieser Stelle der Stimme.

Doch erhebe ich selbige auch gleich wieder, um noch einmal die vorgelagerten weltlichen Gründe für diese Teuerung zu benennen. Es ist vornehmlich eine Melange aus globalen Lockdown-Maßnahmen, bzw. der daraus resultierenden ausgewachsenen Angebotsknappheit, dem Versuch der geldpolitischen Kompensation der Lockdown-Folgen und den sich jetzt da zusätzlich obendrauf setzenden (Sanktions-)Wirkungen des Krieges. Diese bestehen aus Export- bzw. Importausfällen, größtenteils bedingt durch Embargos. Die monetäre Wirkung dieser Embargos trifft im Übrigen ironischerweise nicht den eigentlicher Empfänger der Maßnahmen, sondern ausschließlich die eigenen Konsumenten. Die Knappheit wird so noch knapper. Ein Mann alleine hat diese Teuerung also ganz bestimmt nicht zu verantworten.

Fazit

Die Erfahrung fallender Vermögenspreise löst in uns einen Impuls innerer Unruhe aus. Der beschriebene Zyklus und die zitierten Schriften haben jedoch, je nach Weltsicht, das Potential im Vertrauen zu bleiben und aus dieser Ruhe heraus die richtigen langfristigen Entscheidungen zu treffen.

Es gibt auch gar keinen Grund an den bewährten Kapitalanlagen, wie etwa zukunftsfähigen Aktien, zu zweifeln. Denn neben der markanten zyklischen Auffälligkeit, ist dieser Sabbat vielmehr Ergebnis einer Überdosis an Interventionismus auf unterschiedlichen Ebenen, was aktuell eben in der außergewöhnlich hohen Teuerung zum Ausdruck kommt. Für eine Rückkehr in Richtung eines „Normalzustands“ wäre ein erster großer Schritt getan, wenn wir wieder über funktionierende globale Lieferketten verfügen und sich eine Angleichung von Angebot und Nachfrage realisieren würde.

Stand jetzt ist es durchaus wahrscheinlich, dass eine Teuerung in Höhen von 6 Prozent und mehr eher ein temporäres Phänomen bleiben und sich dieses Tief über den Kapitalmärkten in einigen Monaten wieder zurückziehen wird. Daher sollten wir In Zeiten wie diesen, in denen wir in unserer Währung nachhaltig keinen (risikofreien) Zins mehr bekommen, vor Kurskorrekturen der letzten Wochen nicht ängstlich zurückschrecken, sondern in Anlehnung an 2. Mose 23:10-11 mit Bedacht das Felde betreten und uns geduldig, mit Sorgfalt und Blick nach vorne solche Entwicklungen zunutze machen, um damit wichtige Voraussetzungen für die eigene spätere Ernte zu schaffen.

Ihr Jörg Haldorn, CFP, EFA